sensibilität

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»Sensibilität ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Im Kampf um Anerkennung unterdrückter Gruppen spielt sie eine wichtige Rolle. Aber sie kann auch vom Progressiven ins Regressive kippen. Über diese Dialektik müssen wir nachdenken, um die gesellschaftliche Polarisierung zu überwinden.« (Svenja Flaßpöhler)

 

Auf 1500 Höhenmetern und in inspirierender Location des vigilius mountain resorts wurde im Oktober 2022 über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren debattiert. Als Hauptreferentin war die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler geladen.

Einmal im Jahr treffen sich renommierte Köpfe im vigilius mountain resort, um Fragen von aktueller gesellschaftlicher Brisanz im Rahmen der Veranstaltung „vigilius sensus“ zu diskutieren. Nach einer corona-bedingten Pause, konnte die diesjährige Ausgabe mit einer besonderen Impulsgeberin aufwarten. Zu Gast war Svenja Flaßpöhler, welche auf die zunehmende Sensibilisierung des Selbst und der Gesellschaft einging.

 

Schon Alexis de Tocqueville war der Ansicht: je gleichberechtigter die Gesellschaft, desto größer die Sensibilität für noch bestehende Ungleichheiten und damit verbundene Verletzungen. Dieses Paradoxon zitierte auch Svenja Flaßpöhler, Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins anlässlich des hochkarätig besetzten Diskussionsabends „vigilius sensus 2022“. Thema der diesjährigen Ausgabe war „Sensibilität“.

Flaßpöhler hat einen Bestseller dazu geschrieben:

„Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ und sich intensiv mit den zentralen Streitthemen unserer Zeit von der MeToo-Bewegung bis hin zu Cancel Culture beschäftigt. Während sich noch vor nicht allzu langer Zeit ältere, weiße Männer den Kuchen teilten, sitzen nun alle an einem Tisch. Dass dies Spannungen verursache, sei nicht anders zu erwarten. Nun müsse mit der Spannung umgegangen werden, betonte die Philosophin. Was sie kritisch beobachtet: „Wir erwarten immer mehr Schutz von der Gesellschaft und muten uns gegenseitig immer weniger zu. Wir sind im Grunde dabei, jede Zumutung zu tilgen. Dadurch werden wir aber auch der Möglichkeiten beraubt, Resilienz auszuüben.“

Resilienz bedeute, mit Krisen umgehen zu lernen, etwas, dem diese permanente Krisenvermeidung entgegenwirke. „Es braucht Kontextsensibilität“, erklärt die Autorin, die grundsätzlich zwischen zwei Ausprägungen von Sensibilität unterscheidet. Während sich nämlich Empfindlichkeit vor allem in Reizbarkeit und einer Form von passiver Sensibilität ausdrücke, sei Empfindsamkeit eine aktive Sensibilität, die sich in Empathie und Einfühlungsvermögen äußere. In vielen aktuellen Diskursen, etwa auch in der MeToo-Debatte werde starke Empathie eingefordert, andere Positionen sofort als inhuman diskreditiert. Dabei sei zu bedenken, dass eine rein empathische Perspektive einer kritischen objektiven Haltung im Wege stehe. Eine Haltung, die es jedoch brauche, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen. Eine Verpanzerung der Gesellschaft sei kontraproduktiv und es brauche Mut, auch abweichende Meinungen zu vertreten. Für die Philosophin ist klar: die Resilienz ist die Schwester der Sensibilität, denn „die Resilienz trägt die Sensibilität tief in sich“. Um die Zukunft zu meistern, brauche es beide.

 

Verschiedenste Ausprägungen und Erfahrungen mit Sensibilität wurden in der anschließenden Diskussionsrunde mit Magdalena Maria Messner (Leiterin der Messner Mountain Museen), Manuela Kerer (Komponistin), Siglinde Doblander (Verantwortliche des Arbeitsbereiches der Begabungs- und Begabtenförderung an der Pädagogischen Abteilung der Deutschen Bildungsdirektion), Hannes Obermair (Historiker) und Ulrich Ladurner, dem Ideator des Formats, besprochen. Moderiert wurde die Diskussion von Harald Pechlaner, dem Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research. „Auch nach Abflauen der Pandemie habe ich sowohl bei den Besucherinnen und Besuchern als auch bei den Mitarbeitenden eine große Verunsicherung bemerkt“, erzählte Magdalena Messner. Eine Verunsicherung, die noch immer anhalte und ein generelles Gefühl, von den Geschehnissen überrannt zu werden. Dass sich in Warteschlangen vor dem Museum eine gereizte Stimmung aufbaue, sei etwas, was noch vor der Pandemie kaum vorgekommen sei, jetzt aber öfter passiere. Man dürfe nicht annehmen, dass diese Zeit keine Spuren hinterlassen habe, sondern müsse versuchen, die Menschen besser abzuholen.

Auf Sensibilität und Kunst ging hingegen Manuela Kerer ein, Komponistin der Oper „Toteis“: „Musik ist die sensibelste Kunst. Sie kommt ohne Worte aus und kann trotzdem starke Botschaften vermitteln“. Man könne durch Musik alle Stimmungen erfahren, nicht nur das Schöne, das Angenehme. Kerer bezeichnet sich selbst als politische Komponistin und ist überzeugt: Kunst und Kultur sind Spiegel der Gesellschaft und tragen damit auch Verantwortung.

Die Bereitschaft, sich zu verändern, sei ungemein wichtig, unterstrich Hannes Obermair. Als Historiker und Museumsgestalter sei er, insbesondere wenn es um Exponate anderer Kulturen gehe, immer wieder mit sensiblen Fragen beschäftigt. Man müsse sich immer wieder neu bewusst machen, wer zu Wort kommen soll, wie Inhalte aufbereitet werden und Exponate präsentiert werden sollten. Dafür brauche es viel Feingefühl und Bewusstsein – auch für die eigene, oft privilegierte Position.

Siglinde Doblander hingegen sprach über Hochsensibilität und Hochbegabung. Für die Entfaltung eines Potentials und die Entwicklung einer Person brauche es sowohl innere Impulse als auch äußere Reize. Ohne Dialog gehe es nicht und tatsächlich gebe es auch Kipppunkte, wo sich ein gewisses Potential auch gegen eine Person richten könne. Es gebe kein Intelligenzgen, aber eine Disposition, die es zu Fördern gelte.

Auch in Unternehmen brauche es Sensibilität und Weitsicht, gegen den Strom zu schwimmen, sich aktiv weiterzuentwickeln und Potential zu fördern. Etwa auch in Kunst und Kultur, wie Ulrich Ladurner, Ideator von vigilius sensus, Direktor und Gründer der Dr. Schär GmbH und Besitzer des vigilius mountain resorts erklärte.

 

Über vigilius sensus

vigilius sensus versteht sich als Plattform, um zukunftsrelevante Fragestellungen zu diskutieren und diese in den regionalen und globalen Kontext zu stellen. In der besonderen Atmosphäre des vigilius mountain resorts gelingt es, die Voraussetzungen für wichtige gesellschaftliche Themen aus einer bestimmten Distanz anzugehen.

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Aktuelles

vigilius sensus 2023

20.11.2023
Am 20.11.2023 findet im vigilius mountain resort die Veranstaltung vigilius sensus zum Thema „Risikokultur - Kompetenzen für die Welt von morgen" statt.   Die Veranstaltung 2023 widmet sich dem Thema „Risikokultur“. Egal ob Alltag, Beruf, Gesundheit oder Finanzen, wir müssen mit Risiken und Ungewissheiten leben, auch weil diese nicht immer berechenbar sind und Gewissheit ohnehin die Ausnahme darstellt. Die vielen Krisen unserer Zeit haben Einfluss auf Wirtschaft, Gesellschaft und Politik und verursachen Unsicherheiten und Unbehagen. Aber wie können wir Kompetenzen entwickeln und welche Strategien helfen uns trotz Unsicherheit bessere Entscheidungen zu treffen? Welche Fehlerquellen gilt es bei Risikoberechnungen zu beachten, um einer Fremdbestimmung zu entgehen und wann helfen Faustregeln und Intuition? Oft führen einfache Regeln zu besseren Ergebnissen als komplizierte Berechnungen: Grundwissen in statistischem Denken und psychologischen Mechanismen könnten uns dabei oft vor Unheil bewahren. Und auch bei Rückschlägen können wir durch Krisenbewältigung und Neuanfang lernen gestärkt hervorzugehen.   Keynote: Gerd Gigerenzer, weltweit renommierter Psychologe, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Direktor des Harding Zentrums für Risikokompetenz.   Ticket erhältlich unter info@vigilius.it, 75,00 € p.P. inklusive Aperitif, 3 Gang Dinner mit ausgewählten Getränken, Seilbahnticket der Vigiljoch Seilbahn    

Köpfe

Siglinde Doblander begleitet seit  2007 den Arbeitsbereich der Begabungs- und Begabtenförderung an der Pädagogischen Abteilung der Deutschen Bildungsdirektion. Als Expertin des Arbeitsbereiches steht sie den Bildungseinrichtungen, Eltern und Interessierten für Information und Einzelfallberatung zur Verfügung. Sie organisiert Fortbildungen zum Thema und steht selbst als Referentin zur Verfügung. Mit der Absicht, besonders begabte und motivierte Schülerinnen und Schüler aus allen Landesteilen auch außerhalb des Schulalltages in einer gleichsam motivierten Gemeinschaft in ihren Talenten zu fördern, organisiert sie im Auftrag der Deutschen Bildungsdirektion spezifische Projekte zur Begabtenförderung.www.provinz.bz.it/begabungsfoerderungPhoto Credits: privat
Svenja Flaßpöhler ist eine deutsche Philosophin, Journalistin und Autorin. Sie ist Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“. Seit 2013 leitet sie (gemeinsam mit Wolfram Eilenberger, Gert Scobel und Jürgen Wiebicke) das Programm der Phil.cologne, ein internationales Festival der Philosophie. Ihre Promotion erschien 2007 unter dem Titel „Der Wille zur Lust. Pornographie und das moderne Subjekt“ bei Campus. Im selben Jahr wurde Flaßpöhlers Buch „Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe“ (WJS) mit dem Arthur-Koestler-Preis ausgezeichnet. 2021 erschien ihr neuestes Werk, das Buch „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenze des Zumutbaren“ bei Klett-Cotta. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.https://flasspoehler.com/vita  Photo Credits: Johanna Ruebel
Manuela Kerer staunt gern und ist ständig auf der Suche nach neuen Klängen, Überraschungen und Herausforderungen. Neben den Studien am Tiroler Landeskonservatorium (Komposition und IGP Violine) promovierte sie in den Fächern Rechtswissenschaften und Psychologie an der Universität Innsbruck. Weiterführende Kompositionsstudien führten sie zu Alessandro Solbiati nach Mailand. Werke von Kerer entstanden für das Solistenensemble Kaleidoskop Berlin, das Klangforum Wien und viele weitere. Sie wurden bei Festivals wie der Münchener Biennale für zeitgenössisches Musiktheater und Wien Modern aufgeführt.http://www.manuela-kerer.bz/about/Photo Credits: Ingrid Heiss
Ulrich Ladurner wurde am 18.11.1949 in Meran geboren. 1980 gründete er den Großhandelsbetrieb Dr. Schär GmbH mit Spezialisierung auf glutenfreie Produkte für Zöliakie-Betroffene. 1995 wurde bei Meran die erste Fabrik der Dr. Schär gebaut, die für Ulrich Ladurner eine große Herausforderung darstellte. Aus dem anfänglichen Zwei-Mann-Betrieb entstand ein Unternehmen, welches heute über 1000 Mitarbeiter weltweit zählt und im Jahr 2014 einem Umsatz von 260 Millionen Euro erzielte.Zur Jahrtausendwende hatte Ulrich Ladurner den Eindruck, als konzentriere er sich zu viel auf Standards und Marktquoten. Als Folge stellte er sich wieder einer großen Herausforderung und widmete sich einer zukunftsträchtigen Vision: Bereits im Frühjahr 2001 stand Ulrich Ladurner erstmals mit dem Architekten Matteo Thun vor dem fast verfallenen Berghotel Vigiljoch, das einst als attraktives Urlaubsziel weit über Italiens Grenzen hinaus bekannt war. „Alles oder nichts?“ war die Frage, die sich die beiden stellten. Die Antwort lautete: „Alles neu, mit der Natur zum Vorbild und der Ruhe als Ziel, mit konsequenter Umsetzung und dem Blick nach vorne gerichtet.“ Das exklusive vigilius mountain resort wurde schnell zum Modell für eine neue Art des „Ökologischen Luxus“.Mit der 2012 erstmals durchgeführten sensus Veranstaltung „Sehnsucht als Perspektive des Wertewandels“ kam Ulrich Ladurner seinem Bedürfnis nach, Impulse zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu schaffen. Teilnehmer sind regelmäßig Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten sowie viele weitere, mit dem spezifischen Thema der Veranstaltung verbundene Persönlichkeiten. Heute, im Jahre 2016, findet bereits die fünfte sensus Veranstaltung statt.
Magdalena Maria Messner leitet die Messner Mountain Museen, sechs Begegnungsstätten in Südtirol und im Belluno zum Thema Mensch-Berg. Sie ist Mutter zweier Söhne und Autorin und hat Kunstgeschichte und Wirtschaft in Wien und Rom studiert.Photo Credits: Sebastian Riepp
Hannes Obermair hat in Innsbruck und in Wien das Doktoratsstudium in Geschichtswissenschaften absolviert. Er ist als Historiker und Ausstellungskurator tätig, der sich sowohl mit mittelalterlichen als auch zeitgenössischen Themen beschäftigt. Er ist Mitglied der Royal Historical Society in London und seit 2019 ein Senior Researcher bei Eurac Research – einem Ort, an dem zu arbeiten er sich stets gewünscht hat. Hannes Obermair hat sich in seiner Laufbahn auf regionale Geschichte spezialisiert, wobei er vor allem die Region Trentino-Südtirol untersucht. Besonders interessieren ihn die Auswirkungen von Faschismus und Nationalsozialismus auf die regionale Gesellschaft und Aspekte von Public History.Photo Credits: Tiberio Sorvillo/Eurac Research
Prof. Dr. Harald Pechlaner ist Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research und Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sowie Leiter des dort angesiedelten Zentrums für Entrepreneurship. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der nachhaltigen Destinationsentwicklung sowie ausgewählter Fragen der Global Governance in der Verknüpfung zu Wirtschaft und Politik. Seit 2014 ist er ständiger Forschungsgastprofessor an der Curtin Business School in Perth, Australien sowie Präsident der AIEST (Association Internationale d‘Experts Scientifiques du Tourisme). Pechlaner begleitet das Kompetenzzentrum Tourismus des Bundes in Berlin als wissenschaftlicher Leiter und ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Photo Credits: Tiberio Sorvillo/Eurac Research