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„Die großen Krisen lassen sich nicht politisch lösen“

Markus Gabriel, deutscher Philosoph und Bestseller-Autor, im Gespräch bei vigilius sensus – Diskussionsrunde mit Südtiroler Persönlichkeiten zur Verantwortung des Unternehmer*innentums

 

Markus Gabriel glaubt an das Gute. Das muss er auch, um seine zentrale These zu stützen, die da wäre: der ethische Kapitalismus sei die Rettung unserer Demokratie. Argumente dafür lieferte der Philosoph kürzlich auf 1500 Metern Höhe, und zwar bei der jüngsten Ausgabe der Veranstaltungsreihe vigilius sensus, zu der das vigilius mountain resort in Zusammenarbeit mit dem Center for Advanced Studies von Eurac Research einlud. Die anschließende Diskussionsrunde mit Sara Canali (SHER Active), Roland Psenner (Eurac Research), Daria Habicher (LIA Collective), Harald Pechlaner (Center for Advanced Studies von Eurac Research) und Ulrich Ladurner (Dr. Schär) beschäftigte sich aus verschiedenen und vor allem kritischen Blickwinkeln mit der Frage nach der Zukunft unseres Wirtschaftssystems.

 

 

Folgt man den Ausführungen Markus Gabriels, so resultieren aktuelle politische Krisen aus dem mangelnden Vertrauen, dass Unternehmer*innentum und Kapitalismus in der Lage sind, die drängenden Herausforderungen unserer Gesellschaft zu bewältigen. „Wir glauben, dass es politische Regulierung benötigt. Die großen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich aber gerade nicht politisch lösen. Wir müssen akzeptieren, dass wir uns unter kapitalistischen Bedingungen fortschrittlich bewegen müssen. Politik ist kein progressives Projekt – vielmehr müssen wir auf das Hauptsystem der Moderne setzen. Und das ist die Wirtschaft.“

 

Der ethische Kapitalismus geht davon aus, dass kapitalistisches Denken und Handeln bewusst oder unbewusst auf moralisch wertvolle Produkte abzielt. Markus Gabriel griff in diesem Zusammenhang ein Konzept auf, das der Ökonom Colin Mayer als „Problem-Solving Capitalism“ bezeichnet. Wirtschaftlicher Erfolg, so Gabriel, entstehe, wenn Unternehmen Menschheitsprobleme auf eine moralisch vertretbare Weise lösen – sei es im Kleinen, in der täglichen Lebensmittelversorgung, oder im Großen, wenn es etwa um nachhaltige Energieproduktion geht.

 

Langfristiger wirtschaftlicher Erfolg lasse sich demnach nur durch den Mehrwert für Mensch und Umwelt begründen. „Ein Prinzip, das übrigens kulturübergreifend gilt: Verdienst wird nur dann geschätzt, wenn dieser Verdienst auch verdient ist“, unterstrich Gabriel. Dabei müsse das moralisch Gute nicht einmal von vornherein gewollt sein, sogar im Gegenteil. „Nehmen wir Tesla-Eigentümer Elon Musk als Beispiel, der möglicherweise nicht primär moralische Ziele verfolgt, dessen Erfindungen im Bereich der E-Mobilität aber dennoch positive Effekte für die Gesellschaft erzielen.“ Eine Dynamik, die schon Goethe treffend beschrieb als die „Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.

 

So könne man auch die Liaison Donald Trumps mit Musk interpretieren: einerseits verdächtig andererseits fortschrittlich. Die Intentionen hinter dieser Verbindung seien bestimmt fragwürdig, stellte Gabriel klar. Trotzdem mache es keinen Sinn, diese psychologisch zu interpretieren oder zu moralisieren. Man könne sogar einen optimistischen Blick wagen. „Vielleicht führt die gegenwärtige Dynamik in den USA sogar zu einem neuen, wünschenswerten Liberalismus und einen respektvollen und verantwortungsvollen Umgang mit unternehmerischen Werten – ganz im Sinne Hegels, der davon sprach, die Rose im Kreuz der Gegenwart zu sehen: also die Möglichkeit, selbst in herausfordernden Zeiten positive Entwicklungen und Chancen zu erkennen.“

 

Nach dem einleitenden Vortrag bot eine Podiumsdiskussion weiteren Raum, um die Gedanken zu vertiefen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten.

 

Soziale Innovation und Verantwortung

 

„Unser Businessmodell baut darauf auf, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen“, betonte Sara Canali, die mit SHER Active, einer Marke für Radsportbekleidung für Frauen, in einer Branche arbeitet, in der Nachhaltigkeit zum springenden Punkt geworden ist. „Angesichts der enormen Abfallmenge von jährlich 90 Millionen Tonnen Textilien stellte sich mir durchaus die Frage, ob es tatsächlich noch eine weitere Bekleidungsmarke braucht. Ziel war es, einen echten Mehrwert zu schaffen, der ethisch vertretbar ist und konkrete Probleme löst, ohne neue zu schaffen.“
Der offensichtliche Bedarf an Verbesserungen – insbesondere im Hinblick auf die Inklusion der Frau im Radsport - war schließlich ausschlaggebend, zu zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg und positive Veränderung Hand in Hand gehen können. Trotzdem brauche es Resilienz und Motivation, sowie eine klare Vision für eine zukunftsfähige Organisation, um sich in dieser starken Männerdomäne zu behaupten.

 

„Soziale Innovation ist nicht von wirtschaftlicher oder unternehmerischer Innovation zu trennen.“ Das unterstrich Daria Habicher, Sozioökonomin und Mitgründerin von LIA Collective, einem Kollektiv, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die sozialökologische Transformation von der Theorie in die Praxis zu bringen. „Wir alle sind Teil dieser Gemeinschaft,“ erklärte sie, „und wir alle tragen Verantwortung, wie wir unternehmerisch handeln – ob im eigenen Business oder im privaten Haushalt.“
In diesem Zusammenhang hob sie auch die Bedeutung des öffentlichen Raumes als Ort der sozialen Interaktion hervor. Am Beispiel des PNRR-Projektes in Stilfs im Vinschgau zeigte Habicher außerdem auf, wie wichtig es ist, Gemeinschaften vor Ort zu stärken und nicht nach Lehrbuch-Ansätzen zu wirtschaften, sondern auf die besonderen Gegebenheiten und Bedürfnisse des Ortes einzugehen. Innovation entstehe immer durch offenen Dialog und Austausch; in einer Region wie Südtirol, die doch noch sehr von traditionellen und patriarchalen Strukturen geprägt ist, sei dies aber tatsächlich eine besondere Herausforderung.

 

„Altruismus ist eine evolutionsbedingte Notwendigkeit – keine moralische.“ Damit brachte Roland Psenner, Naturwissenschaftler und Präsident von Eurac Research den Mathematiker Martin Nowak in die Diskussion ein, der feststellte, dass Altruismus evolutionär entstehen muss und nicht etwa aus einer Moral oder Religion heraus. Wir leben von der Erfahrung, die wir gemacht haben, in einer Zukunft, die wir nicht kennen. Wissenschaft spiele dabei eine zentrale Rolle, da sie durch empirische Fakten Orientierung biete. „Wir beobachten, ziehen Schlüsse und erklären dann die Welt.“ Was es aber auch brauche, seien Kooperationen oder, wie es der späte Marx formulierte: Kooperativen.

 

Krise und Glaubwürdigkeit im Unternehmer*innentum

 

Ulrich Ladurner, Ideator von vigilius sensus und Gründer von Dr. Schär, ist überzeugt, ein moralisch wertvolles Produkt anzubieten. Sein Unternehmen habe in der Herstellung von Lebensmitteln für Personen mit besonderen Ernährungsbedürfnissen von Anfang an das Ziel verfolgt, einen unmittelbaren Bedarf gezielt zu erfüllen und Ernährungsqualität sicherzustellen. Trauen wir dem Unternehmer*innentum zu wenig zu? „Vielleicht ist es auch so, dass das Unternehmer*innentum sich zu wenig engagiert,“ diagnostizierte Ladurner. „Die Wirtschaft hält sich bei gesellschaftlichen Transformationsfragen vornehm zurück“, konstatierte auch Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Harald Pechlaner. Die Politik nutze diese Stille des Unternehmer*innentums. Doch gerade in Krisenzeiten sei es notwendig, dass Wirtschaft, Wissenschaft und Politik enger zusammenarbeiteten. Auch er plädierte in Anlehnung an den Vortrag Gabriels für eine Symbiose dieser Bereiche.

 

Zu Recht warf das Publikum unter anderem auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Unternehmen ein. Stichwort Dieselskandal: „Dass die deutsche Automobilindustrie kollabiert, hat Gründe. Und diese liegen nicht in China“, betonte Markus Gabriel. Dieser Skandal zeige exemplarisch, dass das Problem weniger in technologischen Versäumnissen wie dem Verpassen der E-Mobilitätswende liegt, sondern vielmehr in einem moralischen Versagen der Branche. Der Vertrauensverlust im Unternehmer*innentum wird wiederum von geopolitischen Gegnern ausgenutzt. Das Unternehmer*innentum sei durch diese Skandale erst recht in der Verantwortung, das wieder wettzumachen.

 

vigilius sensus ist eine Veranstaltungsreihe des vigilius mountain resorts mit Ideator Ulrich Ladurner. Wissenschaftlich und inhaltlich unterstützt wird das Format von Harald Pechlaner, Leiter des Center for Advanced Studies und Michael de Rachewiltz, Philosoph am Center for Advanced Studies von Eurac Research.

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Aktuelles

vigilius sensus 2024

07.11.2024
„Die großen Krisen lassen sich nicht politisch lösen“ Markus Gabriel, deutscher Philosoph und Bestseller-Autor, im Gespräch bei vigilius sensus – Diskussionsrunde mit Südtiroler Persönlichkeiten zur Verantwortung des Unternehmer*innentums   Markus Gabriel glaubt an das Gute. Das muss er auch, um seine zentrale These zu stützen, die da wäre: der ethische Kapitalismus sei die Rettung unserer Demokratie. Argumente dafür lieferte der Philosoph kürzlich auf 1500 Metern Höhe, und zwar bei der jüngsten Ausgabe der Veranstaltungsreihe vigilius sensus, zu der das vigilius mountain resort in Zusammenarbeit mit dem Center for Advanced Studies von Eurac Research einlud. Die anschließende Diskussionsrunde mit Sara Canali (SHER Active), Roland Psenner (Eurac Research), Daria Habicher (LIA Collective), Harald Pechlaner (Center for Advanced Studies von Eurac Research) und Ulrich Ladurner (Dr. Schär) beschäftigte sich aus verschiedenen und vor allem kritischen Blickwinkeln mit der Frage nach der Zukunft unseres Wirtschaftssystems.   Lesen Sie mehr hier.

Köpfe

Markus Gabriel (geb. 1980), studierte in Hagen, Bonn und Heidelberg. Er war Postdoc in Lissabon und New York, wo er 2008 an der New School for Social Research seine erste Professur antrat. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist seit 2012 Direktor des zugehörigen Internationalen Zentrums für Philosophie. 2017 gründete er das interdisziplinäre Center for Science and Thought, dessen Direktor er seitdem ist. Er ist regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1-Panthéon Sorbonne) sowie der New School for Social Research in New York City. Seit 2024 ist er außerdem Senior Global Advisor am Kyoto Institute of Philosophy. Photo Credits: Sabine Vielmo
Ulrich Ladurner wurde am 18.11.1949 in Meran geboren. 1980 gründete er den Großhandelsbetrieb Dr. Schär GmbH mit Spezialisierung auf glutenfreie Produkte für Zöliakie-Betroffene. 1995 wurde bei Meran die erste Fabrik der Dr. Schär gebaut, die für Ulrich Ladurner eine große Herausforderung darstellte. Aus dem anfänglichen Zwei-Mann-Betrieb entstand ein Unternehmen, welches heute über 1000 Mitarbeiter weltweit zählt und im Jahr 2014 einem Umsatz von 260 Millionen Euro erzielte.Zur Jahrtausendwende hatte Ulrich Ladurner den Eindruck, als konzentriere er sich zu viel auf Standards und Marktquoten. Als Folge stellte er sich wieder einer großen Herausforderung und widmete sich einer zukunftsträchtigen Vision: Bereits im Frühjahr 2001 stand Ulrich Ladurner erstmals mit dem Architekten Matteo Thun vor dem fast verfallenen Berghotel Vigiljoch, das einst als attraktives Urlaubsziel weit über Italiens Grenzen hinaus bekannt war. „Alles oder nichts?“ war die Frage, die sich die beiden stellten. Die Antwort lautete: „Alles neu, mit der Natur zum Vorbild und der Ruhe als Ziel, mit konsequenter Umsetzung und dem Blick nach vorne gerichtet.“ Das exklusive vigilius mountain resort wurde schnell zum Modell für eine neue Art des „Ökologischen Luxus“.Mit der 2012 erstmals durchgeführten sensus Veranstaltung „Sehnsucht als Perspektive des Wertewandels“ kam Ulrich Ladurner seinem Bedürfnis nach, Impulse zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu schaffen. Teilnehmer sind regelmäßig Wissenschaftler, Schriftsteller, Journalisten sowie viele weitere, mit dem spezifischen Thema der Veranstaltung verbundene Persönlichkeiten. Heute, im Jahre 2016, findet bereits die fünfte sensus Veranstaltung statt.
Prof. Dr. Harald Pechlaner ist Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research und Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sowie Leiter des dort angesiedelten Zentrums für Entrepreneurship. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der nachhaltigen Destinationsentwicklung sowie ausgewählter Fragen der Global Governance in der Verknüpfung zu Wirtschaft und Politik. Seit 2014 ist er ständiger Forschungsgastprofessor an der Curtin Business School in Perth, Australien sowie Präsident der AIEST (Association Internationale d‘Experts Scientifiques du Tourisme). Pechlaner begleitet das Kompetenzzentrum Tourismus des Bundes in Berlin als wissenschaftlicher Leiter und ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Photo Credits: Tiberio Sorvillo/Eurac Research